Interview mit Jeanine Meerapfel, in: Deutschland Archiv, 30.6.2022
Autoren/-innen: Jeanine Meerapfel, Sharon Adler für bpb.de
Quelle: www.bpb.de/510023
Die Filme. Deutschland. Jüdinnen und Juden in Deutschland
Sharon Adler: In Ihren Filmen[1] verhandeln Sie drängende gesellschaftspolitische Themen – Antisemitismus und die Verweigerung der Nachkriegsgesellschaft, sich mit der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen, Rassismus und immer wieder das große Thema des Exils und der Heimatlosigkeit. In Ihrem 1981 in Westberlin gedrehten Dokumentarfilm Im Land meiner Eltern gehen Sie der Frage nach, was es für Jüdinnen und Juden bedeutet, „heute in Deutschland zu leben“. Welche Antworten auf diese Frage waren für Sie persönlich die prägnantesten?
Jeanine Meerapfel: Der Film ist 1981 gedreht worden, insofern ist das ja schon ein Weilchen her. Er wird jetzt auch während des Jüdischen Filmfestivals im Rahmen der Hommage meiner Arbeit gezeigt. Es gab viele Antworten, und vielleicht war eine der wichtigsten Antworten, dass der Vater der kleinen Anna Levine sagte: „Solange es ein Problem mit Ausländern in diesem Land gibt, solange ist das Problem des Antisemitismus auch nicht erledigt.“ Ich denke, dass das leider immer noch gültig ist. Solange es irgendeine Form von Rassismus gibt, werden wir auch das Problem des Antisemitismus in dieser Gesellschaft nicht loswerden.
Sharon Adler: Hypothetisch gefragt: Welche Antworten auf diese Frage würden Sie heute erhalten?
Jeanine Meerapfel: Das ist wirklich hypothetisch, ich kann mir ja nicht vorstellen, was die anderen antworten würden. Ich kann nur sagen, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte, die Auseinandersetzung mit dem Holocaust, die Auseinandersetzung mit dem immer noch existierenden Antisemitismus nie aufgehört hat, denn das hat auch mit der Unfähigkeit dieser Gesellschaft zu tun, tatsächlich mit den „anderen“ umzugehen. Und den „anderen“ auch als einen „anderen“ zu akzeptieren. Das heißt auch, die Unterschiede zwischen den Kulturen, zwischen den Herkünften zu akzeptieren. Ich glaube, dass das in dieser deutschen Gesellschaft immer noch so ist. Für mich hat das sehr viel damit zu tun, dass in den Schulen zwar über den Holocaust geredet wird, aber nicht darüber, was die jüdische Kultur und Religion sind und was sie bedeuten. Solange das nicht behandelt wird, um ein Verständnis herzustellen, solange wird es Missverständnisse und auch Hass geben.
Sharon Adler: Was bedeutet es heute für Sie persönlich, in Deutschland zu leben und zu arbeiten?
Jeanine Meerapfel: Das ist eine Frage, die ich mir – nach was weiß ich wie vielen Jahren – nicht mehr stelle. Ich lebe hier und habe viele Arbeiten gemacht und habe bestimmte Positionen inne. Aber ich habe immer eine kritische Distanz, und die werde ich mein Leben lang beibehalten. Trotzdem bin ich auch sehr dankbar, dass ich hier studieren konnte, dass ich hier arbeiten und mich entwickeln konnte. Meine Filme machen konnte. Und ich habe in diesen ganzen Jahren viel gelernt.
Sharon Adler: Sie sind 1964 nach Deutschland gekommen, um am Institut für Filmgestaltung der Ulmer Hochschule für Gestaltung bei Alexander Kluge und Edgar Reitz zu studieren. Wie haben Sie die Atmosphäre als Jüdin zu dieser Zeit erlebt, in der Universität unter den Studierenden, auf der Straße, in den Medien?
„Gerade in der deutschen Gesellschaft ist es nicht akzeptabel, wenn antisemitische oder antiisraelische Äußerungen auftreten. (…)“ „Die Grenze ist auch überschritten, wenn sich Kunstwerke einer antisemitischen Formensprache und Symbolik bedienen. Wenn dies geschieht, müssen wir Einspruch erheben.“
(© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Jeanine Meerapfel: Ich erinnere mich an etwas, wovon ich in meinem Film Der Deutsche Freund erzählt habe. Es gab eine Szene, die ich nie vergessen werde. Einer meiner Co-Studenten fragte mich – als wenn er ein Zebra oder eine Giraffe anschauen würde – was das sei, jüdisch zu sein? Diese Fremdheit mir und dem Judentum gegenüber hat mich sehr verblüfft. Das war das eine. Das andere, was ich gemerkt habe, war, dass in diesen Jahren schon eine große Abrechnung mit den Eltern stattfand. Und die Fragestellung, was sie während der NS-Zeit gemacht haben. Diese Generation von Deutschen, die auch diese Fragen an ihre Eltern oder Großeltern gestellt hat, hat es mir natürlich einfacher gemacht, hier zu leben.
Mutter, Herkunft, Exil, Erinnern und Vergessen
Sharon Adler: In beinahe allen Filmen beschäftigen Sie sich mit den Lebensrealitäten von Frauen (Die Kümmeltürkin geht, Annas Sommer, Malou, La Amiga) und besonders der Biografie, dem Leben und Überleben Ihrer Mutter. In Ihrem Film Eine Frau haben Sie die Jahre ihrer Kindheit in Frankreich, die Flucht aus Deutschland über Holland und Frankreich nach Argentinien zurückverfolgt. Es wird schmerzhaft deutlich, dass für sie das Gefühl von Heimatlosigkeit und Entwurzelung durch „das Leben woanders“ immer präsent war. War dieses Gefühl auch Teil Ihrer Kindheit? Wann wurde Ihnen das bewusst?
Jeanine Meerapfel: Das ist eine sehr persönliche Frage. Ich glaube, dass in meiner Arbeit die Antworten zu diesen Themen zu finden sind. Insbesondere in Eine Frau wird deutlich, dass man sich mit solchen Themen ein Leben lang beschäftigt. Und dadurch ist das nie erledigt. Das kann auch nicht erledigt sein. Man soll sich nicht der Illusion hingeben, dass man tatsächlich etwas abschließen kann. Es gibt nur unterschiedliche Formen des Erzählens. Ich habe mich bei diesem letzten Film für eine sachliche Erzählung entschieden, eine Erzählung von der Zerrissenheit dieser Frau und den Verlusten, die sie in ihrem Leben durchgemacht hat. Damit erzähle ich auch eine ganze Menge über meine Generation. Über das, was bei uns, der Generation der Nachkommenden, geblieben ist.
Sharon Adler: „Ich muss so lange erinnern, bis ich vergesse“, sagen Sie in Ihrem Film Eine Frau und sprechen auch von einer „imaginierten Realität“ die „die Reproduktion der Wirklichkeit ersetzt“ habe. Was bedeutet Erinnern für Sie?
Jeanine Meerapfel: Auch das ist eine persönliche Frage, und ich antworte wieder mit meiner Arbeit: Der Satz ist so gebaut, dass ich sage, dass die Fotos und die Materialien, die ich gefunden habe, eigentlich die Reproduktion der Wirklichkeit sind. Und dass sie mir damit das echte Gefühl entfremden. Dass man sich mehr und mehr entfremdet von dem echten Gefühl, weil ja die Reproduktion der Wirklichkeit den Platz der echten Erinnerung übernimmt. Es ist ein Prozess, der mich als Filmemacherin natürlich sehr interessiert. Und über den ich an mehreren Stellen in dem Film rede. Auch da, wo ich über den Fotografen Nicéphore Niépce[2] spreche. Was bedeutet es, etwas festzuhalten? Und was verliert man, wenn man etwas festhält? Das sind, wenn man so will, philosophische Fragen, die mit der Tatsache des Erinnerns zusammenhängen.
Argentinien
Sharon Adler: In Eine Frau integrieren Sie Material wie Super 8-Aufnahmen, Familienfotos, Archivmaterial, Dokumente, Musik. Sie selbst sind 1943 in Argentinien geboren, wohin Ihre Eltern vor dem Faschismus in Europa geflüchtet sind.[3] Welche Erinnerungen haben Sie an die Gemeinschaft der jüdischen Exilant:innen und an das jüdische Leben in Argentinien in Ihrer Kindheit und Jugend?
Jeanine Meerapfel: Mein Vater und die Familie meines Vaters waren die typischen Drei-Tage-Juden. Sie sind zu Jom Kippur oder zu Rosch ha-Schana in die Synagoge gegangen. Mein Opa hat mich ab und zu mitgenommen, aber Religion hat ihnen wenig bedeutet. Kultur hat viel bedeutet. Sie waren in Deutschland assimilierte Juden, und das war in Argentinien nicht anders. Zudem bin ich ja bei meiner Mutter groß geworden, die mir die französische Kultur mitgab. Ich war auch in einer französischen Schule, und was ich da mitbekommen habe, war, dass die Kinder von katholischen Familien in den katholischen Religionsunterricht gingen, und wir Jüdinnen besuchten etwas, was sich „Moral“ nannte. Einen Unterschied habe ich da schon erlebt. Da war eine Trennung, aber nicht, weil wir sehr religiös waren, sondern einfach, weil wir einer anderen Gemeinschaft angehörten. Das, was ich da erlebt habe, auch die Unterschiede zwischen den deutschen Juden und den deutschen Deutschen, die in Buenos Aires in ähnlichen Häusern wie wir lebten, habe ich auch in meinem Film Der Deutsche Freund erzählt. Darin erzähle ich sehr viel von den Merkwürdigkeiten in dieser Zeit. Aber es fand auch jüdisches Leben im Exil statt. Es gab ein jüdisches Tageblatt, und es gab ein jiddisches Theater. Es gab alles Mögliche, auch Feste wie Pessach, die in der Familie gefeiert wurden. Insofern war da schon ein Bewusstsein da.
Sharon Adler: Im Film erzählen Sie, wie es bei Ida und Jakob Meerapfel, Ihren Großeltern väterlicherseits, immer nach Butterplätzchen gerochen habe. Wieviel „Deutschland“, wieviel Untergrombach – der Ort, aus dem sie kamen – wurde in Argentinien gelebt?
Jeanine Meerapfel: Die Bibliothek meines Vaters und meines Opas hat davon schon erzählt. Es war Feuchtwanger da, es gab Thomas Mann zu lesen und so weiter. Die Musik, die sie hörten, teilweise auch. Die Liebe zur klassischen Musik und zur deutschen Musik war da. Abgesehen davon haben sie Deutsch gesprochen und Spanisch nur mit deutschem Akzent. Das alles waren eindeutig Spuren aus der Kultur, aus der sie kamen. Untergrombach war ja ihr Zuhause. Interessant finde ich, und das zeige ich auch in dem Film, dass dort in ihrem ehemaligen Wohnhaus heute eine türkische Familie lebt.
Sharon Adler: In Ihren Filmen spürt man eine große Liebe zu Argentinien, dem Zufluchtsland Ihrer Eltern, dem Land, in dem Sie aufgewachsen sind. Argentinien ist auch immer wieder Thema in Ihren Filmen. Es lebten dort aber nicht nur jüdische Exilant:innen, sondern auch NS-Kriegsverbrecher, darunter Adolf Eichmann und Josef Mengele. 1960 wurde in Buenos Aires Eichmann vom Mossad aufgespürt und zum Prozess nach Israel gebracht. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Jeanine Meerapfel: Ich habe damals nur sehr wenig von Eichmann und Mengele mitbekommen, das kam erst später, als ich wirklich erfuhr, was das bedeutete. Das war, als Erich Priebke[4] , der in Bariloche, im Süden Argentiniens, in Patagonien lebte, festgenommen wurde. Ein Ort, an dem wir oft Ferien gemacht haben. Als junges Mädchen habe ich das alles nicht so wahrgenommen. Damals war ich damit beschäftigt, erwachsen zu werden, eine junge Frau zu werden. Wahrscheinlich hat mein Vater uns davor geschützt und nicht davon gesprochen.
Sharon Adler: Wie wurde in Argentinien die Tatsache diskutiert, dass Eichmann der Prozess gemacht werden sollte? Und auch, dass er so viele Jahre unbehelligt unter einem Decknamen dort leben konnte?
Jeanine Meerapfel: Das war schrecklich und es bleibt schrecklich. Das ist eine Katastrophe. Aber das war tatsächlich so, und auch nicht nur in Argentinien, sondern in vielen anderen Ländern Südamerikas und in den Vereinigten Staaten. Insofern war Argentinien keine Ausnahme. In meinem Film Der deutsche Freundthematisiere ich genau solche Geschichten. Dass die Juden und die Nazis in den gleichen Cafés saßen, in den gleichen Orten lebten und einkauften, zum Teil in unterschiedlichen Fleischereien, aber in den gleichen Orten. Das war eine Tatsache, und darüber ist auch viel geschrieben und reflektiert worden. Das habe ich für mich viel später entdeckt.
Sharon Adler: Können Sie bitte noch mehr über Ihren Film Der deutsche Freund berichten?
Jeanine Meerapfel: Darin beschreibe ich so präzise wie möglich, dass sich eine ganze Generation von jungen Deutschen mit ihren Vätern auseinandergesetzt hat, und wie sie ihnen vorgeworfen haben, was sie in der Nazi-Zeit gemacht haben. Das repräsentiert diese deutsche Figur. Andererseits gibt es das jüdische Mädchen, das davon noch nicht so viel weiß, aber plötzlich damit konfrontiert wird, dass ihr Freund, der Junge von gegenüber, den sie so gerne mag, tatsächlich genau das repräsentiert. Diese Auseinandersetzung führe ich in diesem Film so, dass eine große Freundschaft und eine Liebe entstehen, die aber kompliziert sind. Weil diese zwei Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft sind. Das geht weiter bis nach Deutschland, wo sie beide hingehen. Dann später auch in Patagonien. Das ist eine ganze Lebensgeschichte, die ich da erzähle. Und dort hinein packe ich diese Geschichte und ihren Hintergrund.
Sharon Adler: „Es gibt Wunden, die sich nicht schließen lassen.“ Mit diesem Statement verweisen Sie in Eine Frau auf die Verbrechen der Militärdiktatur in Argentinien, die Sie auch in den Spielfilmen Amigomío(1995) und La Amiga (1988) thematisiert haben. Wie tief sind diese Wunden heute noch?
Jeanine Meerapfel: Genauso tief wie damals. Die können nicht überwunden sein. Erstens sind nicht alle Verbrecher hinter Gittern – und das ist der einzige Ort, wo sie sein müssten –, und zweitens ist die argentinische Gesellschaft leider jetzt eher damit beschäftigt, zu überleben, als sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Da gibt es immer Kräfte, die das vertuschen wollen und andere Kräfte, die erinnern wollen. Und die meinen, dass man keine gerechte Gesellschaft aufbauen kann, wenn man die schrecklichen Verbrechen, die da verübt worden sind, nicht erinnert und nicht sühnt. Selbstverständlich gehöre ich zu den Kräften, die erinnern wollen.
Europäische Allianz der Akademien
Sharon Adler: Sie haben im Herbst 2020 die Europäische Allianz der Akademien initiiert, einen Zusammenschluss von heute 67 Kunstakademien und Kulturinstitutionen aus Ländern der Europäischen Union, aus Großbritannien und Norwegen, die dem erstarkenden Antisemitismus, Rechtsextremismus und Nationalismus europaweit entgegentreten wollen und die gemeinsam für die „Freiheit der Kunst“ einsteht. Wofür steht die Allianz?[5]
Die Filmemacherin, Drehbuchautorin, Produzentin und Präsidentin der Akademie der Künste, Jeanine Meerapfel, hat im Herbst 2020 die Europäische Allianz der Akademien initiiert, die dem erstarkenden Antisemitismus, Rechtsextremismus und Nationalismus europaweit entgegentreten und die gemeinsam für die „Freiheit der Kunst“ einstehen.
(© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Jeanine Meerapfel: Sie steht dafür, dass wir gemeinsam die Freiheit der Kunst vertreten und dafür kämpfen; dass wir uns zusammengetan haben, um uns auch gegenseitig zu helfen, wenn die Freiheit der Kunst in Frage gestellt wird. Wir haben uns schon mit Problemen auseinandergesetzt, die wir in Ungarn und in Polen gesehen haben, wo Künstlerinnen und Künstler unter Druck gesetzt und Institutionen geschlossen oder übernommen worden sind. Da haben wir unsere Stimme erhoben und versucht zu bewirken, dass es rückgängig gemacht wird. Diese Zusammenkunft von derzeit 67 Kunstakademien aus ganz Europa führt dazu, dass wir eine andere Kraft haben, als wenn wir allein dastünden. Das ist eine sehr erfolgreiche Allianz. Wir sind in Berlin, Budapest und Madrid zusammengekommen, und wir treffen uns bald wieder in Amsterdam. Es gibt immer weitere Hinweise und weitere Arbeiten, die wir machen. Wir diskutieren über die Probleme der unterschiedlichen Länder, und wir versuchen, die Kreativität und die Kraft der Künstlerinnen und Künstler darzustellen, auch im Netz.
Sharon Adler: Was ist Ihr Traum von der Freiheit der Kunst?
Jeanine Meerapfel: Mein Traum von der Freiheit der Kunst ist erstens, dass Künstlerinnen und Künstler von ihrer Kunst leben können. Das ist eine Voraussetzung, um Kunst zu machen. Zweitens, dass wir in einer solchen demokratischen Verfasstheit leben, dass tatsächlich Meinungen und Haltungen unterschiedlichster Form gezeigt werden können. Dass wir die Toleranz üben, dass die Kunst zu einer Form von Aufklärung führt – im Sinne von: die Unterschiede zeigen, die es zwischen den Menschen gibt –, und dazu beitragen, dass diese Unterschiede akzeptiert werden. Das ist eine wichtige Voraussetzung für mich, für eine offene und freie Kunst.
Die Documenta 15
Sharon Adler: Sie stellen sich Antisemitismus entschieden entgegen,[6]haben – anders als viele andere, darunter auch Vertreter:innen staatlicher Institutionen – die Handlungen und Thesen der sogenannten BDS-Bewegung als antisemitisch und antiisraelisch bezeichnet, zuletzt[7]anlässlich der Diskussion um Antisemitismus durch das Kurator:innenteam der Documenta 15. Was kann getan werden, wenn Künstler:innen oder Schriftsteller:innen antisemitische oder antiisraelische Thesen in Form von Kunst oder Sprache verbreiten?
Jeanine Meerapfel auf der „MS Goldberg“, dem ersten jüdischen Theaterschiff Deutschlands, anlässlich der Filmvorführungen von MALOU und EINE FRAU im Rahmen des 28. Jüdisches Filmfestival Berlin Brandenburg / JFBB.
Der Preis für den interkulturellen Dialog ging im Jahr 2022 an EINE FRAU.
(© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Jeanine Meerapfel: Dafür haben wir Gesetze und eine Verfassung, laut derer die Würde des Menschen unantastbar ist. Gerade in der deutschen Gesellschaft ist es nicht akzeptabel, wenn antisemitische oder antiisraelische Äußerungen auftreten. Wie Bundespräsident Steinmeier zur Eröffnung der diesjährigen documenta sagte: „Kritik an israelischer Politik ist erlaubt. Doch wo Kritik an Israel umschlägt in die Infragestellung seiner Existenz, ist die Grenze überschritten.“ Die Grenze ist auch überschritten, wenn sich Kunstwerke einer antisemitischen Formensprache und Symbolik bedienen. Wenn dies geschieht, müssen wir Einspruch erheben.
Akademie der Künste
Sharon Adler: Sie sind seit 1998 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Film- und Medienkunst, ab 2012 bis 2015 Stellvertretende Direktorin dieser Sektion. 2015 wurden Sie zur Präsidentin der Akademie der Künste gewählt.[8] Im Mai 2018 und November 2021 erfolgte die Wiederwahl. Welche Themen möchten Sie – auch mit Blick auf Förderung junger Künstler:innen [9] – vorantreiben und was liegt Ihnen besonders am Herzen?
Jeanine Meerapfel: Einerseits ist die von vielen nicht so wichtig genommene Erinnerungskultur für mich eine ganz, ganz wichtige Frage, die ich auch in der Akademie verfolge. Es ist mir sehr wichtig, immer wieder darüber zu reden. Darüber, welche Künstlerinnen und Künstler aus dieser Akademie in der Zeit des Nationalsozialismus ausgeschlossen wurden, weil sie Juden waren, oder weil sie mit der NS-Diktatur nicht einverstanden waren. Dies zu erinnern und dies wachzuhalten ist eine der wichtigsten Aufgaben, die ich mir vorgenommen habe.
Auch die Tatsache, dass es heute immer noch so viele antisemitische Überfälle gibt, finde ich extrem erschreckend. Dagegen will ich auch etwas tun. Das mache ich in Form von Gesprächen, Dialogen, Auseinandersetzungen. Wir haben auch eine JUNGE AKADEMIE. Sie fördert in einem interdisziplinären Artist-in-Residence-Programm internationale Künstler*innen aller Kunst-Sektionen der Akademie der Künste mit Aufenthalts- und Arbeitsstipendien. Auch da wird in diesem Sinne gearbeitet. Und es gibt das Vermittlungsprogramm KUNSTWELTEN, das sich an Kinder, Jugendliche und Erwachsene richtet. Mit Akademie-Mitgliedern aller künstlerischen Sektionen und Stipendiatinnen und Stipendiaten der JUNGEN AKADEMIE werden in Führungen, Gesprächen, Werkstätten und künstlerischen Aktionen Themen und Projekte der Akademie und ihrer Mitglieder nähergebracht. Die Programme finden in der Akademie der Künste am Pariser Platz und am Hanseatenweg sowie in den Akademie-Archiven statt, an Berliner Schulen und in weiteren deutschen und europäischen Städten. Seit 2006 ist KUNSTWELTEN auch in den Landkreisen Anhalt-Bitterfeld und Vorpommern-Greifswald aktiv. Ein Fokus liegt darauf, mit den Mitteln der Kunst aufzuklären, im Dialog Vorurteile abzubauen und Zusammenhalt zu schaffen. Ein besonderes Projekt entstand kürzlich im Gedenken an den Philosophen Walter Benjamin, der sich 1940 auf der Flucht vor den deutschen Nationalsozialisten im spanischen Portbou das Leben genommen hatte.
Begleitet vom Walter Benjamin Archiv und KUNSTWELTEN setzten sich Abiturientinnen des Berliner Rosa-Luxemburg-Gymnasiums mit Leben und Werk Benjamins auseinander und folgten vom 18. bis 23. September 2021 seinen Spuren über die Pyrenäen. Sophie Narr drehte die Reise. Ihr Dokumentarfilm zeigt in eindrücklichen Bildern die verschiedenen Stationen der Reise, den Besuch des Gedenkorts Passagen mit dem von Dani Karavan geschaffenen Mahnmal in Portbou, den Weg über die Pyrenäen und die Gespräche vor Ort – Gespräche über das historische Geschehen und die Bedeutung von Flucht und Exil heute. Dabei ist ihr etwas ganz Außergewöhnliches gelungen: Der Film hält fest, wie „Lernen“ geht, er zeigt den Lernprozess, den die jungen Frauen vor Ort durchleben, was es mit ihnen macht, wenn sie sich mit diesen Themen auseinandersetzen. Mir ist es sehr wichtig, als Präsidentin der Akademie der Künste solche Projekte zu initiieren und fördern zu können.
Sharon Adler: Ihre Filme sind auch Filme über das Filmen, den Prozess des Filmens selbst. Durch welches Bild würden Sie diesen Prozess beschreiben?
Jeanine Meerapfel: Zum Beispiel gibt es eine Szene im Film Eine Frau, in der wir eine Fabrik sehen, wo die Frauen an sehr diffizilen Zusammenstellungen von Elektromagneten arbeiten. Ich drehe das und erzähle, dass ich draußen die Caravans von Roma gesehen habe. Dass ich mich aber nicht getraut habe, zu drehen. Und sage, dass dieser Film auch darüber ist, was man nicht sieht –einen Teil der Realität, den ich nicht aufnehme und aufnehmen kann, denn man kann nicht die ganze Realität aufnehmen. Da mache ich darauf aufmerksam, dass, auch wenn wir eine Geschichte erzählen, wir eine andere nicht erzählen. Indem wir Dinge weglassen, bestimmen wir unseren Ausschnitt der Realität. Darauf hinzuweisen, scheint mir sehr wichtig zu sein. Das mache ich in dem Film mehrmals, weil es mir auch wichtig erscheint, die Aufmerksamkeit darauf zu wenden, dass es noch andere Stories gibt, die ich nicht erzähle. Und dass ich die Wahrheit nicht kenne. Sondern dass es nur ein Angebot ist. Dies ist etwas, was mich sehr interessiert. Ich glaube, dass die Fantasie des Zuschauers diese Lücken ausfüllt.